Springe zur Hauptnavigation Springe zum Inhalt

Welchen Einfluss hat die Züchtung auf das Tierwohl?

Die Tierzucht hat großen Einfluss auf das Tierwohl. Bisher wird sie aber noch zu wenig in die Tierwohlbemühungen einbezogen, meinen Fachleute.

Rotbuntes Kalb mit gelben Ohrmarken
Fleischansatz und -qualität spielen bei der Zucht von Milchrassen eine sehr untergeordnete Rolle. Nachkommen, die nicht für die Milcherzeugung benötigt werden – vor allem Bullenkälber –, sind aus diesem Grund fast wertlos für den Betrieb.
Quelle: landpixel.de

Das System der Nutztierhaltung in Deutschland steht in der Kritik. Die Gesellschaft fordert, dass sich Staat und Landwirtschaft für ein höheres Tierwohlniveau und eine bessere Tiergesundheit einsetzen. Konkrete Vorschläge dazu, wie die Nutztierhaltung tierwohlgerechter ausgestaltet werden könnte, liegen seit Jahren vor. Etwa in Form des Gutachtens des wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik "Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung" aus dem Jahr 2015 oder den Empfehlungen der Borchert-Kommission.

Sowohl diese Vorschläge als auch die von der Politik in den letzten Jahren bereits ergriffenen Maßnahmen, zielen aber vor allem auf den Bereich der Haltung von Nutztieren und kaum auf deren Züchtung.

Und das, obwohl viele Kritikpunkte der Gesellschaft die Tierzucht betreffen. Namhafte Tierzuchtwissenschaftler haben daher im Sommer 2021 einen Artikel in der Fachzeitschrift "Züchtungskunde" herausgebraucht, in dem sie die Hauptkritikpunkte benennen und Ansätze vorstellen, wie eine gesellschaftlich akzeptierte Tierzucht künftig aussehen könnte. Das Wichtigste für die Zuchtrichtungen Rind, Schwein und Geflügel haben wir für Sie im Folgenden zusammengefasst.

Rinder

Zu viele (unrentable) Kälber in der Milchviehhaltung

Einer der gesellschaftlichen Hauptkritikpunkte an der Rinderzucht ist die sehr einseitige Zucht auf hohe Milchleistung: Das Dilemma bei Milchrindern ist, dass die Kühe viel Milch geben, aber nur sehr wenig Fleisch ansetzen. Das macht die Nachkommen dieser Rassen, die nicht für die Milcherzeugung benötigt werden – also insbesondere die männlichen Kälber – wenig rentabel. Eine gewinnbringende Mast ist mit diesen Tieren kaum möglich, beziehungsweise nur dann, wenn die Kälber zu sehr niedrigen Preisen gekauft werden. Zum Hintergrund: Fürs Mästen werden vornehmlich Bullen von Fleischrassen verwendet.

Auf vielen Höfen begegnet man diesem Problem damit, dass man einige der Milchkühe im Bestand mit Fleischrindern kreuzt, um Nachkommen zu erzeugen, die etwas mehr Fleisch ansetzen. Weibliche und männliche Tiere aus diesen Kreuzungen können dann besser als Masttiere verkauft werden. Eine andere Möglichkeit, die sich in der heutigen Rinderzucht anbietet, ist die sogenannte Spermiensortierung. Damit kann man vorab das Geschlecht der Nachkommen bestimmen und die Nachkommenschaft so steuern, dass mehr weibliche und weniger (unrentable) männliche Kälber geboren werden. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass jeder Milchviehbetrieb immer nur eine bestimmte Anzahl an weiblichen Tieren für die Erneuerung des Bestandes verwenden kann: für jedes nachrückende weibliche Tier muss letztlich immer eine ältere Kuh weichen – das heißt geschlachtet werden. Der Ansatz, über die Spermiensortierung mehr weibliche Kuhkälber zu erzeugen, wäre also nur bedingt von Nutzen, denn er würde ein anderes Problem forcieren: Durch das erhöhte Angebot an weiblichen Kälbern würden ältere Kühe, deren Nutzungsdauer heute ohnehin schon sehr kurz ist, noch früher ersetzt.

Langfristig kann das Problem also nur gelöst werden, indem man das Aufkommen an Kälbern in der Milchviehhaltung insgesamt verringert. Einen Lösungsansatz sehen die Tierzuchtwissenschaftler darin, die Melkperiode der Kühe auf züchterischem Wege zu verlängern. Denn dann muss die Kuh für die erneute Kalbung und Melkperiode erst später wieder besamt werden. Die Zahl der Kälber würde sich dadurch also langfristig verringern.

Weniger auf Leistung, dafür mehr auf Fitness und Gesundheit züchten

Ein weiterer Vorwurf gegenüber der Rinderzucht lautet: Die extreme Zucht auf Milchleistung hat dazu geführt, dass die Tiere häufiger und schneller krank werden. Diese Kausalkette ist aus Sicht der Tierzuchtexperten in dieser pauschalen Form allerdings nicht haltbar, denn wissenschaftliche Arbeiten zeigen, dass man sehr wohl Milchleistung und Gesundheit gleichzeitig verbessern kann. Wie gesund Milchkühe sind, ist weniger von der Genetik als von der Umwelt und dem Management abhängig.

Das Krankheitsgeschehen hänge somit vor allem vom jeweiligen Betrieb und dessen Können ab. Insgesamt, so sind sich die Experten aber einig, müsse die Milchviehzüchtung zukünftig dennoch darauf abzielen, den Schwerpunkt weniger auf Leistung und mehr auf Fitness, Gesundheit und Robustheit zu legen. Auf diese Weise könnten dann nämlich auch Betriebe mit schlechteren Managementvoraussetzungen einen besseren Gesundheitszustand erreichen.

Extremzuchten vermeiden

Kuh der Rasse "Weiß-blaue Belgier" auf der Weide
Die Fleischrasse ꞌWeiß-blaue Belgierꞌ ist wegen der extremen Bemuskelung stark umstritten.
Quelle: eurobanks via Getty Images

Wichtig ist – auch das betonen die Tierzuchtwissenschaftler –, dass auf die Zucht von Rassen verzichtet wird, bei denen durch extreme Merkmalsausprägung gesundheitliche Beeinträchtigungen, Schmerzen oder Schäden verursacht werden.

Ein Beispiel für solche Extremzuchten im Rinderbereich ist die Fleischrasse Weiß-Blaue Belgier. Durch eine natürliche Genmutation kommt es bei diesen Tieren zu einem übertriebenen Muskelwachstum. Bis zu 25 Prozent mehr ausschlachtbares Muskelfleisch bringen diese Tiere auf die Waage. Eine Folge dieser Genmutation ist jedoch, dass natürliche Geburten kaum mehr möglich sind. Ein Großteil der Kälber muss also per Kaiserschnitt auf die Welt gebracht werden. Darüber hinaus sind Gelenkentzündungen und Organerkrankungen die Folge dieses übermäßigen Muskelwachstums. In Belgien sind weiß-blaue Belgier die führende Fleischrasse.

In Deutschland ist die Zucht dieser Fleischrasse zwar nicht verboten, hierzulande nutzt man sie aber fast nur dazu, um sie in andere Rassen einzukreuzen. Bei Nachkommen solcher Kreuzungen treten die oben beschriebenen Probleme in der Regel nicht auf. Dennoch stellt sich die Frage, ob die Nutzung dieser Rasse im Hinblick auf die geschilderten Probleme in der Reinzucht ethisch vertretbar ist.

Schweine

Robustere und weniger krankheitsanfällige Mastschweine

Mastschweine sind darauf gezüchtet, dass sie in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Fleisch ansetzen. Die erfolgreiche Haltung solcher auf hohen Fleischansatz gezüchteter Tiere ist heute nur unter hohen Managementanforderungen möglich. Das heißt, die Haltungs- und Fütterungsbedingungen auf den Betrieben müssen bis ins kleinste Detail aufeinander abgestimmt sein. Wie bei den Milchkühen erfüllen aber auch in der Schweinehaltung nicht alle Betriebe diese hohen Managementanforderungen, wodurch es auch hier immer wieder zu Gesundheits- und Tierwohlproblemen kommt.

Um die Situation von Mastschweinen zu verbessern, strebt die Politik zukünftig eine Extensivierung der Haltungs- und Fütterungsbedingungen an: die Tiere sollen zum Beispiel Auslauf im Freien erhalten oder mehr mit Protein aus heimischen Futterpflanzen gefüttert werden. Die heutigen, auf hohen Fleischansatz gezüchteten Tiere sind für eine solch extensive Haltung jedoch in der Regel nicht geschaffen. Will man Schweine, die auch unter den beschriebenen extensiven Bedingungen gut zurechtkommen, wird es zukünftig also nötig sein, Mastschweine zu züchten, die etwas robuster und weniger krankheitsanfällig sind.

Wie viele Ferkel sind zu viele Ferkel?

Ferkel werden von der Mutter gesäugt
Sauen sollen möglichst viele Ferkel zur Welt bringen und säugen können. Wo liegt das Maximum?
Quelle: Aumsama via Getty Images

Sauen zur Ferkelerzeugung werden darauf gezüchtet, dass sie möglichst viele Ferkel zur Welt bringen. Bei einigen Muttersauen übersteigt inzwischen die Anzahl der geborenen Ferkel sogar die verfügbare Anzahl an Zitzen. Das bedeutet, dass manche Ferkel keine oder zu wenig Milch erhalten.

Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass die Verluste an Saugferkeln in den Betrieben immer mehr zugenommen haben. Aus Sicht der Autoren muss die Tierzucht daher dafür sorgen, dass es zukünftig wieder zu einem ausgewogenen Verhältnis von Ferkeln und verfügbaren Zitzen kommt.

Geflügel

Mehr Zweinutzungshühner statt reiner Legehybriden?

In der Legehennenhaltung ist es ähnlich wie in der Milchviehhaltung: Auch hier richtet sich die Züchtung der Tiere an der Leistung der weiblichen Tiere aus. Die männlichen Geschwister von Legehybriden, die sogenannten Bruderhähne, können aber keine Eier legen und setzen auch nur sehr langsam und wenig Fleisch an. Eine gewinnbringende Mast ist mit diesen Tieren nicht möglich. Daher hat man sie jahrzehntelang kurz nach dem Schlupf getötet. Seit Januar 2022 ist das Kükentöten nicht mehr zulässig.  Eine Geschlechtsbestimmung im Ei soll von nun an Abhilfe schaffen.

Als einen züchterischen Lösungsansatz für dieses Problem diskutiert man seit einiger Zeit die Zucht sogenannter Zweinutzungshühner. Solche Hühner legen Eier und setzen Fleisch an, allerdings in weit geringerem Umfang als das bei den jeweiligen Lege- und Mastlinien der Fall ist. Um gewinnbringend wirtschaften zu können, müssen die Betriebe Fleisch und Eier solcher Zweinutzungshühner daher deutlich teurer verkaufen. Im Bio-Bereich geht diese Rechnung zum Teil auf, weil hier viele Kundinnen und Kunden aus idealistischen Motiven bereit sind, einen solchen Aufpreis zu zahlen. Für den breiten Markt wird das aber nicht funktionieren.

Fokus auf langsamer wachsendes Mastgeflügel

Masthühner auf Einstreu in einem Maststall
Die Zeit, in der ein Masthähnchen sein Schlachtgewicht erreicht, konnte durch Züchtung extrem verringert werden. Vielfach kommt es durch das schnelle Wachstum jedoch zu Beeinträchtigungen für die Tiere.
Quelle: landpixel.de

Bei Masthühnern und Mastputen gibt es das Problem des Kükentötens nicht, denn hier werden sowohl männlich als auch weibliche Tiere gemästet. Das Mastgeflügel wurde allerdings lange Zeit sehr einseitig auf Mastleistung gezüchtet. Das heißt, die Tiere sollen in kurzer Zeit so viel Fleisch wie möglich ansetzen und dafür möglichst wenig Futter benötigen. Eine Folge dieser enormen Zuwachsleistung, so die Tierzuchtwissenschaftler, ist, dass sich die Tiere immer weniger bewegen. Beinschäden, Stoffwechselerkrankungen und Hautläsionen treten immer häufiger auf und die Sterblichkeit im Geflügelmastbereich ist deutlich erhöht.

Ein Lösungsansatz für dieses Problem könnten langsamer wachsende Mastlinien sein, bei denen diese Probleme nicht oder nur in geringerem Umfang auftreten. Allerdings geben die Experten zu bedenken, dass die längere Mastdauer und die schlechtere Futterverwertung zu einem deutlich höheren Verbrauch natürlicher Ressourcen (Futter, Wasser, Futteranbaufläche) und durch die höheren Stickstoffausscheidungen zu einer höheren Umwelt- und Klimabelastung führen würden.

Fazit

Die oben beschriebenen Ansätze stellen nur einen Ausschnitt dessen dar, was die Tierzucht zu einem höheren Maß an Tierwohl beitragen kann. Weitere Vorschläge sind im Originalartikel zu finden.

Sie zeigen, dass beim Umsteuern in Richtung einer gesellschaftlich akzeptierten, mehr am Tierwohl orientierten Nutztierhaltung stärker als bisher neben Fragen der Haltung auch Fragen der Tierzucht und der Tiergesundheit adressiert werden müssen.

Für ein Wiedererlangen der gesellschaftlichen Akzeptanz von Tierzucht ist daher aus Sicht der Autoren der Studie ein klares Bekenntnis zur Anpassung der Zuchtrichtungen und Zuchtmethoden und eine Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen erforderlich.

Diese stünden aber nicht im Einklang mit dem globalen Wettbewerb zwischen Zuchtorganisationen. Auch habe die "Umsetzung der Maßnahmen zum Teil erhebliche ökonomische Konsequenzen für die Landwirte und die Zuchtorganisationen". Diese ökonomischen Konsequenzen müssten bei der Finanzierungsplanung des derzeit angedachten Umbaus der Tierhaltung in Deutschland mitberücksichtigt werden.

Letzte Aktualisierung: 18. April 2023


Weitere Informationen

Züchtungskunde 3/2021: Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Tierzucht

Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung (PDF)


Kalb trinkt an einem Tränkeeimer

Was passiert mit den Kälbern von Milchkühen?

Kälber werden meist kurz nach der Geburt von der Mutter getrennt. Ein Großteil der Tiere verlässt den Betrieb dann bereits nach wenigen Wochen.

Eine tiergerechtere Haltung kostet Geld – doch wer soll das bezahlen?

Viele Menschen in Deutschland wünschen sich eine tiergerechtere und umweltschonendere Tierhaltung. Die ist machbar, kostet aber.

Mastschweine in einem Stall mit Spaltenboden

Tierwohl - was heißt das konkret?

Geht es um Nutztierhaltung, ist oft von Tierwohl, Tierschutz oder Tiergerechtigkeit die Rede. Was ist damit gemeint und wo liegen die Unterschiede?